Noch sechs Tage, dann endet, die dOCUMENTA 13 in Kassel. Bisher hat sie durchaus gute Kritiken geerntet. So paradox es klingen mag, aber sie ist ebenso zugänglich wie schwerfällig. Erkenntnisse der Quantenmechanik, Mikrobiologie, organische Biologie, Zoologie, Zeugnisse menschlicher Kultur – vereint in der Kunst und doch autark. Zusammenbruch und Wiederaufbau so das Leitmotiv. Im <Brain>, in der Rotunde des Fridericianums ist der Gedanke von Konflikt, Trauma und Zerstörung, von Zusammenbruch und Wiederaufbau den Carolyn Christov-Bakargiev nennt, auf engem Raum besonders gut erkennbar. So beispielsweise <Objekte, die im libanesischen Bürgerkrieg beschädigt wurden>. Auf den ersten Blick ein Gebilde aus Gestein, die Erklärung bringt Licht ins Dunkel: zwei Gegenstände, aus dem Nationalmuseum in Beirut, dort wo während des libanesischen Bürgerkriegs (1975-1990) die Front verlief, wurden durch ein Feuer irreparabel beschädigt und sind miteinander förmlich verschmolzen. Der Lauf der Dinge und was daraus wurde, dieses Exponat fand ich sehr treffend.
Überhaupt der Gedanke, dass Orte speichern was an ihnen geschah, liegt im Grunde allen Gedenkstätten zugrunde. Carolyn Christov-Bakargiev bewegte Ihre Künstler dazu, sich diesem Phantombewußtsein der Orte, vor allem Kassel und Kabul zu widmen. Kunst als Zeuge, als Wissensträger und auch als Wiedergutmacher des geschehenen.
Die Künstlerin Mariam Ghani hat dieses Thema wort-wörtlich aufgegriffen und kreiirte mit Ihrer Videoinstallation ein Portrait zweier Gebäude, die, obwohl in verschiedenen Jahrhunderten und auf verschiedenen Kontinenten errichtet wurden, erhebliche Gemeinsamkeiten nicht nur hinsichtlich der Architekturstile und Grundrisse zeigen, sondern auch in Bezug auf die symbolischen Rollen, die sie in ihren historischen und zeitgenössischen Kontexten spielen: das Fridericianum in Kassel und der Darulaman-Palast in Kabul. Während Ihrer Errichtung waren sie Wahrzeichen von Modernität und Aufklärung, wurden später zu Denkmälern für den Niedergang der Zivilisation durch die unmeschlichen Zerstörungen des Krieges und die rückwärtsgerichtete Revolte. Während das Fridericianum in Kassel durch die Wiedereinführung der Avantgarde mittlerweile zu einem Symbol für die Erholung eines Landes nach dem Krieg geworden ist, liegt der Darulaman-Palast in Kabul immer noch in Trümmern.
Ebenso beeindruckend dieser photorealistische halbrunde Wandteppich der polnischen Künstlerin Goshka Macuga. Dieser Teppich hat ein Pendant, in einem ebenso halbrundem Raum in Kabul und ist während der Dauer der dOCUMENTA dort zu sehen.
Diese Arbeit erkundet eine geisterhafte Zone der Halbwahrheit, ein Gefüge aufeinander bezogener zeitlicher Ebenen, ein potenzielles Sicheinlassen auf eine Illusion, die sich mit der Rolle der Kunst und mit der Welt im GANZEN auseinandersetzt. Die architektonischen Eigenschaften der Rotunde im Fridericianum inspirierten die Künstlerin einen zweiten Wandteppich zu schaffen, der für eine weitere mögliche Halbwahrheit steht.
Auf metaphorischer Ebene bilden diese ZWEI Halbkreise, die sich an verschiedenen Orten befinden und diverse Epochen evozieren, ein GANZES, das geistig , aber nicht körperlich zugänglich ist.
Die Arbeit besteht aus zwei photorealistischen Wandteppichen in schwarz-weiß vor deren einander entgegengesetzte panoramaartige Hintergründe eine Vielzahl historischer Verweise als gleichzeitig bestehende Wirklichkeiten gestellt sind.
In Verkörperung der zweideutigen Rollen eines (der/die immer nur eine Seite der Wahrheit darstellt) fotografierte Macuga zwei Kulturereignisse: die Feierlichkeiten zur Verleihtung des Arnold-Bode-Preises im Oktober 2011 in Kassel, wo sie als Preisträgerin zusammen mit dem Kuratoren- und Geschäftsleitungsteam des Preiskomitees porträtieren ließ. Sie montierte diese Szene auf den Rasen der Karlsaue um ein halbfiktives Ereignis in idyllischer Umgebung zu schaffen, das auf einer ähnlich gerundeten Wand in einem Pavillion im Bagh-e Babur in der Nähe des Kabuler Königinnenpalastes angebracht ist.
Der zweite Wandteppich ist ein paralleles Bildnis der Gäste bei einem Festessen, das die Künsterin im Februar 2012 in Bagh-e Babur abhielt. Unter den Porträtiereten sind Mitarbeiter und Vertreter von Institutionen, wie dem Afghanischen Ministerium für Information und Kultur und dem Afghanischen Nationalmuseum, aber auch Archäologen er UNESCO. Angestellte von Nichtregierungs-organisationen, Journalisten und Intellektuelle. Dieser friedliche Empfang in einem Garten bildet einen doppelsinnigen Hintergrund für einen Auseinandersetzung mit den politischen und wirtschaftlichen Problemen, die sich aus Zusammenbruch und Wiederaufbau ergeben, mit Fälschung und Wahrheit inmitten der Komplexitäten des heutigen Afghanistans. Indem die Arbeit die gesamte Wand der Rotunde bedeckt, spiegelt sie den anderen Halbkreis in Kabul und vervollständigt ihn zugleich – ein doppelter Versuch, das Undarstellbare darzustellen, eine skeptische Untersuchung der Kriterien auf deren Grundlage Wahrheiten zum Ausdruck gebracht und von anderen angenommen werden.
Ein großartiges und sehr komplexes Werk, dass ich gerne als großes Ganzes einmal sehen würde.
Quellen: Das Begleitbuch dOCUMENTA 13, art spezial, Monopol
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