Floating Piers

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ES WAR ETWAS GROSSES. ETWAS GANZ GROSSES

Und wie bei vielen großen Dingen, dauert es oft, bevor sich etwas bewegt.

Wäre es in New York  oder an der Küste Australiens, so wäre es absurd gewesen, doch es war der Iseosee den sich Christo für sein Landart Projekt Floating Piers ausgesucht hat. Der Iseosee in der Lombardei. Von München durchaus gut stemmbar, sodass die Frage ob ich reise, damit bereits positiv beantwortet war. Die Frage des Zeitpunkts zog sich. Denn anfänglich waren die Floating Piers aufgrund der Wetterlage temporär gesperrt, sechs Tage später der 24-Stunden-Modus zwischen 0.00 und 6.00 Uhr aufgehoben, der Andrang ohnehin viel zu hoch und die Übernachungsmöglichkeiten schlichtweg überteuert. Gute Vor-Ort-Reiseberichte kaum auffindbar. Über allem tickte die Uhr, unaufhaltsam, denn lediglich vom 18. Juni bis 3. Juli 2016 waren sie begehbar. Temporär. Vergänglich in all Ihrer beeindruckenden Schönheit.

Die Vergänglichkeit. Allgegenwärtig. Sie ist ein Prozess, schwer greifbar. Vergänglichkeit ist in allem, umschließt und begleitet, fortwährend, unaufhaltsam. Mal länger. Mal kürzer -auf der zeitlichen Achse betrachtend- und  selten bewusst. Christo machte sie bewusst, für einen vorbestimmten Zeitraum, begrenzt. Für Sechzehn Tage.

Vierzehn Tage lang war der Reichstag 1995 in Berlin verhüllt, der selbst 21 Jahre später immer noch emotional im Gedächtnis anhaftet.  So tief und so detailliert, dass es gerade zu beängstigend ist. 21 Jahre -eine lange Zeit, da ist viel Raum. Raum, in dem Christo zwei weitere  große Verhüllungsprojekte gemeinsam mit seiner Frau Jeanne-Claude realisieren konnte. Raum in dem er Abschied nehmen musste von ihr, das war 2009. Seither arbeitet er weiter. Weiter auch im Namen von Jeanne-Claude. Christo ist Jahrgang 1935 – die Lebenszeit begrenzt. Vielleicht zählen die Floating Piers, zu einem der letzt realisierten Land-Art Projekten unter seiner Mitwirkung.

Beeindruckend sind sie, die Floating Piers – allein in den Zahlen und Fakten. Ursprünglich geplant für den Rio de la Plata in Südamerika, später für die Bucht von Tokio – ein Projekt, das zuerst nur auf dem Papier existierte und später auf dem Iseosee verwirklicht wurde. Die Stege verbanden die zwei Inseln Monte Isola und San Paolo mit dem Festland von Sulzano.

DAS PROJEKT IN ZAHLEN

  • 15 Millionen Euro sollen die Floating Piers gekostet haben – eigenfinanziert ausschließlich durch den Verkauf von Christos Zeichnungen, Entwürfen und Fotolizenzen rund um das Projekt.
  • 220.000 aneinandergereihte Polyäthylen-Würfel, zusammengehalten mit
  • 220.000 Verbindungspunkten, verankert mit dem Seeboden,
  • 200 Stück an der Zahl. Je Stück:
  • 5,5 Tonnen schwer, durch:
  • 37.000 Meter Seil mit den schwimmenden Stegen verbunden. Mit:
  • 2,7 Millionen Liter Wasser gefüllt, um die Endwürfel zu beschweren, damit sie quasi schräg ins Wasser gleiten – deutsche Ingenieurskunst. Umhüllt mit:
  • 100.000 qm leuchtend organge-gelben Polyamidstoff, gefertig in Greven, in der Nähe von Münster. Unterfüttert mit:
  • 70.000 qm  Filzgewebe.  Die Breite der Floating Piers betrug stolze:
  • 16 Meter – trotz des Besucheransturms verliefen sich die Menschenmassen gut über eine Gesamtlänge von
  • 3 km, hinzu kamen nochmal gute:
  • 2,5 km Fußweg über dem Fest- sowie dem Inselland. Erwartet hatte man
  • 500.000 Besucher –
  • 1,3 Millionen wurden bis zum Ende gezählt.

Auf den Weg, ging es mit dem Auto, ein paar Schokoladenkeksen, reichlich Wasser und einer Hand voll Informationen.  Gegen 5.20 Uhr stand ich auf einem der offiziellen Parkplätze in Iseo, der beim Verlassen, bereits überfüllt war. Zwanzig Euro, anstatt der angegebenen fünfzehn auf der Website. Auch die Tankrechnung differierte von den angeprisenen 1,44 Euro je Liter auf abgerechnete 1,78 Euro je Liter. Die Italiener sind bekannt für ihre Abrechnungsmethoden, aber auch bekannt für ihre Kinderfreundlichkeit, was mir -ohne es vorab zu wissen- später sicher eineinhalb Stunden Wartezeit ersparte.  Und so lief ich mit etlichen anderen Menschen, an der überfüllten Shuttlebus Haltestelle vorbei.

Am Iseosee entlang, ca. drei Kilometer Richtung Pilzone, um dann von Ordnungshütern über ein kleines Bergplatteaux für ca. drei weitere Kilometer umgelenkt zu werden. Herrlich schön, inmitten der Morgenstimmung. Fast verschlafen, wären da nicht die anderen Menschen. Pilgerstimmung. Vorfreude auf etwas, das man schon von weitem sah. Und bereits ein Teil davon war. Irgendwann kam das Ortsschild von Sulzano, der erste vollgestopfte Shuttlebus fuhr behäbig vorbei und immer noch zog sich der Weg, zäh wie Kaugummi. Gehwege waren kaum vorhanden. Die Innere Stimmung hielt dagegen. Leicht und weiträumig. Und wie aus dem Nichts lief ich dann plötzlich auf orange-gelb stoffbelegten Straßen. Jetzt war der Zeitpunkt bekommen. Bald.

Direkt auf der gegenüberliegenden Straßenseite kam der Schwarm Kunstbegeisterter aus dem Shuttlebus an einer roten Ampel zum stehen. Geballte Energie prallte regelrecht von der stockenden Menge ab. Die Menschenansammlungen wurden dichter, der eigene Raum enger. Kurzer Hand fischte mich ein Carabinieri, dank meiner Picolina, aus der Menge. Vorbei an den Teilabsperrungen durchlief ich drei durchaus konfortable Abkürzungen und stand mittendrauf.  Auf den Floating Piers, inmitten einer beindruckenden Berglandschaft auf dem Iseosee zwischen dem Festland Sulzano und den benachbarten Inseln. Ein Ort, den man sonst vielleicht mit einem Boot erfahren kann, sonst jedoch der Isolation unterliegt.

Erlebe Energien, die zu schwer in Worte zu fassen sind

Zu schwer.  Bilder helfen auch nicht – sie schildern vielleicht das Gesehene. Beindrucken. Hier gibts weitere oder hier oder das noch, aus dem Weltraum festgehalten. Das wirklich erlebte und erspürte enthalten sie vor. Selten habe ich ein Kunstwerk so extrem physisch erspürt, wie dieses. All umfassend vielleicht sogar das erste. Das kann ich noch nicht sagen, das muss sich setzen. Peux-a-peux. Da hilft nur Zeit. Viel Zeit.

Leicht wankend je nach Wellengang und Dichte der anderen Besucher tastete ich mich langsam vor. Äußerst achtsam, um alles aufzusaugen. Lief über all die Stege. Streckenweise Barfuß, ganz wie es der Künstler emfohlen hatte. Pausierte, staunte und trat in Dialog. In Dialog mit dem Kunstwerk und den anderen Besuchern. Und nach und nach trat etwas seltsames ein: die Normalität. Paradox, so sehr ich auch alles versuchte aufzusaugen. Es gelang mir nicht mehr, ich lief, als wären die Stege immer da, vielleicht rüttelten mich zwei, drei größere Wellen nochmal wach, vielleicht auch nochmal das schrille Pfeiffen der Rettungskräfte, das Besuchern galt, die sich zuweit an den abgesenkten Außenrand wagten. Ich wurde Müde. Müde vom Laufen, Müde von der schwülen Sommerhitze, Müde von der intensieven Farbbestahlung.  Kurz vor Schluss, kam nochmals ein letztes aufbäumen, nur noch wenige Meter, vielleicht doch nochmal zurück oder hinsetzen, wenigstens ein Foto und noch eins. Entschieden. Bewusst dem Ende entgegen.

Es hat sich gelohnt. Das bleibt. Bis zum letzten Augenblick.

 

 

 

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